Surplusrealität in der Einzeltherapie
5 Die Brücke zwischen Phantasie und Realität im Psychodrama
5.1 Die Struktur der Surplus - Erfahrung
Eine wichtige therapeutische Zielsetzung des Psychodramas ist die Zusammenführung von Realität und Phantasie. Durch szenische Darstellung konkretisiert das Psychodrama zum einen Phantasien, innere Figuren usw., zum anderen werden reale interpersonale Konflikte mittels Imagination auf der Psychodrama-Bühne reproduziert und dadurch neu, sowie umfassender erfahrbar gemacht, so als ob es in der Realität geschähe.
(vergl. Grete Leutz, 1982)
Nach Grete Leutz sind emotionale Erfahrungen und dramatische Technik ineinander verwoben, um den Protagonisten in eine psychodramatische Surplus-Welt hineinzuführen. Leutz gibt der Surplus-Welt eine logische Ordnung, sie unterscheidet die Ich-Erfahrung einer objektiven (äußeren) und subjektiven (inneren) Realität sowie die Du-Erfahrung in der Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Sie beschreibt die Surplus Realität-Erfahrung als eine Bewußtseinserweiterung der Realität mit den Mitteln der Bühne. Surplus Realität kann erlebt werden:
- Als Selbsterfahrung der äußeren Realität, welche auf der Bühne als vergangene oder zukünftige Geschehnisse einer psychodramatischen Realitätsprobe unterzogen werden.
- Als Selbsterfahrung der inneren Realität, als Dramatisierung der Phantasien, der Träume, aber auch der Imaginationen, Halluzinationen und Wahngebilde der Schizophrenen.
- Als Du-Erfahrung, womit sie die Entwicklung des Teleprozeßes, z.B. durch den Rollentausch meint.
In der Surplus-Realität lösen sich die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen Tag und Nacht auf. Surplus-Realität verbindet die Welt der Phantasie und der Realität. Moreno sprach in seinem Schöpfer-Konzept darüber, daß der Mensch sich frei bewegen kann, wenn er Grenzen überschreitet und nicht nur eine adäquate Lösung sucht, sondern die unbekannte Welt begrüßen könne.
5.2 Goethe's Lila
Jakob Levy Moreno war ein großer Bewunderer von Goethe. Viele Gedanken und Inspirationen von Moreno haben ihre Wurzel bei Goethe. Moreno berichtet, daß er das erste Psychodrama in der Geschichte bei Goethe gefunden hat: in dem (wenig bekannten) Drama "Lila".
Hier finden wir zugleich eine gute Darstellung des Heilungsprinzips durch die Externalisierung der Innerlichkeit. Lila's innere Welt, ihre Phantasiefiguren, werden psychodramatisch ausgespielt und damit verifiziert. (vgl. Moreno 1971) Gottfried Diener hat über Goethe's "Lila" ein Buch geschrieben, welches wiederum von Moreno in einer Monograpfie kommentiert wurde. In dieser Monographie zitiert Moreno einen Brief Goethe's an den Direktor des Königlichen Theaters in Weimar, K.F. Grafen Brühl vom 1. Oktober 1818:
"Das Spiel "Lila" ist wirklich eine psychologische Heilung, in welcher der Verrücktheit erlaubt wird, sich ganz und gar auszudrücken, um diese zu heilen."
(Moreno 1971, übers. d. Verf.)
Gottfried Diener hat dies definiert als die Externalisierung der gefährlichen Introversion.
Lila ist eine junge Frau, welche mit einem Baron verheiratet ist. Dieser muß in den Krieg ziehen, und bald darauf erhält Lila die fälschliche Nachricht, daß der Baron gefallen sei. Lila kann dies nicht verarbeiten und wird psychotisch. So will sie ihren Gatten bei seiner Rückkehr nicht mehr erkennen. Verzweifelt unternimmt ihre Familie alles mögliche, um ihr zu helfen, aber nichts gelingt, bis schließlich ein modern denkender Psychiater, namens Dr. Verazio, gerufen wird. Dieser erprobt eine neue Methode, die Goethe (immerhin Anfang des 19ten Jahrhunderts) so schildert: Lila war in den Garten gegangen und sprach mit ihren Phantasiegestalten. Sie spricht mit einem Baum, sie spricht mit Feen und Trollen. Der Arzt fordert die Mitglieder von Lila's Familie auf, sich auf Lila's Phantasie einzulassen. So verkleiden sich alle in die Rollen und spielen in Lila's Innenwelt mit, werden also zu ihren Hilfs-Ichs. Goethe läßt seinen Dr. Verazio sagen: Sie kommt nicht in unsere Welt, wir müßen uns in ihre Welt begeben.
So kann Lila, zweifellos zunächst überrascht, dann aber auf diese neue Realität eingehend, ihre inneren Gedanken und Phantasien ausdrücken und mitteilen. Sie nimmt wieder Kontakt auf mit der Welt. Das interessante Ende ist, daß Lila eine Phantasie von einem Geist hat, der ihren Baron retten könne. Die Situation wird dann so geführt, daß Lila die Rolle, dieser Retter mit magischer Kraft zu sein, selbst ausspielen kann. In ihrer Phantasie ist ihr Mann nicht tot, sondern nur gefangen, und sie kann sein Retter sein, sie befreit ihn aus dem Gefängnis. Damit holt sie sich selbst aus ihrem eigenen Gefängnis, so ist sie wieder unterwegs zur Heilung. Indem sie selbst die Rolle des Retters ausspielt, heilt sie sich. Die Handelnde sein zu können, nicht passiv das Schicksal ertragen zu müssen, ist das was ihr gefehlt hat, was sie verrückt gemacht hat.
Lila's Geschichte ist ein gutes Beispiel für eine Technik, die im Psychodrama das Playbacktheater genannt wird. Das bedeutet, daß die anderen Anwesenden für den Protagonisten die Geschichte vorspielen, die er erzählen möchte. Die Familienmitglieder stellen Lila's Innenwelt dar und halten ihr so einen Spiegel vor. Bereits dadurch, das dargestellt ist, was sie fühlt, erhält sie das Gefühl, daß es in Ordnung ist, zu fühlen, was sie fühlt. Es ist eine Enttabuisierung. Es darf nicht nur mitgeteilt werden, es wird sogar dargestellt. Andere nehmen viel Mühe auf sich, nur für sie, fühlen sich ein in ihre Geschichte. Das ist der erste Schritt aus der Innenwelt der Psychose heraus.
5.3 Ein Fall von Paranoia: John und Mary
Moreno schildert in einer eigenen Fallgeschichte "John und Mary" die Behandlung einer Paranoia. Die Patientin Mary, eine junge Frau, wird zu Moreno nach Beacon gebracht, um dort eine längerfristige, stationäre Behandlung zu erhalten. Mary ist auf der Suche nach John, einer Person ihrer Einbildung. Als Moreno Mary im Aufnahmegespräch begrüßt, fragt Mary, ob John auch da sei. Moreno verneint dies, sagt aber, John habe ein Telegram geschickt, sie solle hier in Beacon bleiben und auf ihn warten. So bestätigt Moreno zunächst ihre (psychotische) Innerlichkeit.
Moreno nimmt in diesem Fall eine spontane Hilfs-Ich-Rolle ein. Er gibt ihr, was er wahrnimmt, das Mary braucht: Bestätigung. John ist für Mary sehr wichtig, er ist sozusagen ihr Lebensinhalt. Mary ist auf der Suche nach John. Moreno nimmt dies wahr und geht darauf ein.
In den folgenden Tagen verwickelt Moreno in mehreren Sitzungen Mary zusammen mit der ganzen therapeutischen Gemeinschaft in Beacon in psychodramatische Spiele. Zuerst fragt er Mary aus:
- Wer ist John eigentlich?
- Was tut er?
- Welche Freunde hat John?
- Wie sieht seine Familie aus?
Dann fordert Moreno die Gruppe auf, für Mary John und sein Leben darzustellen, wie ein Theaterstück, ein sogenanntes Playbacktheater, in dem Mary zunächst nur Zuschauerin ist. Natürlich ist Mary fasziniert und schließlich läßt sie sich einbeziehen, kommt auf die Bühne und spielt mit.
In diesem Ablauf, der sich über mehrere Sitzungen hinzieht, besetzten immer wieder die gleichen Personen die Rollen für Mary's Psychodrama. Mary's ganze "Wunsch-" Innenwelt wird ausgespielt: Wie John und Mary sich begegnen, wie sie sich verlieben, wie sie heiraten. Nun sagte Moreno zu Mary, daß John bei der Armee ist und nicht selbst kommen kann, aber daß doch die Hochzeit mit einem Stellvertreter für John stattfinden soll. Schließlich wird diese Hochzeit so ausgespielt, daß Mary diese Situation mit einem Mann, dem Hilfs-Ich, der immer für Mary den John dargestellt hat, durchspielt. Dieser Mann heißt William und Mary heiratet nun im Spiel John, dargestellt von William und sie überträgt die Gefühle, die sie für (den nicht existenten) John hat, auf William und schließlich verliebt sie sich auch real in William.
So kommt Mary über das Ausspiel ihrer Innenwelt zurück in die Realität und kann sich befreien von ihrer Obsession, John zu suchen. Sie hat dann eine Affäre mit William und als diese endet, kommt sie in Kontakt mit einem Mann aus ihrer Heimatstadt mit dem sie sich dann verbindet und den sie nach längerer Zeit heiratet.
Mary's Heilungsprozeß verläuft über drei Stufen: Verwirklichung, Stellvertretung und Klärung. Zuerst wurde Mary mit ihrer Innenwelt angenommen und akzeptiert. Ihre Innenwelt wird auf der Bühne verwirklich und ausgespielt. In Mary's innerpsychischen Welt durfte bzw. konnte zunächst nicht wahr werden, was sie sich von der Natur her wünscht. Sie möchte Liebe geben und empfangen, sie will sich frei einen Mann wählen.
Diese Gefühle werden in einem Spiel ausgespielt, haben aber in dem Spiel erst die Möglichkeit überhaupt ausgedrückt und gefühlt zu werden. Obwohl stellvertretend ausgedrückt, ist doch das Gefühl der Liebe Realität. Lieben zu dürfen und somit auch zu können, schafft die Brücke zur Realität. In dieser Welt kann Mary auch leben, und das will sie dann auch: Sie verliebt sich in einen real anwesenden Menschen. Ihre Realitäten klären sich und sie bekommt Kontakt zu sich und zu anderen.